LUV 2016

 

30 junge Menschen aus allen Disziplinen kamen vom 25. bis 31. Juli auf einer Burg zusammen, um sich der Zukunft mit kritischer Naivität zu stellen.
Während der Woche mit strukturierter Strukturlosigkeit experimentierten wir mit spontanen und abgekaterten Ansätzen gemeinsamen Denkens und Visionierens: in Gesprächen über flexibel modular gestaltete fliegende Städte, Knappheit und Träumereien, über Flucht und Grenzen, Gendernormen, die Schwierigkeit sich gegenseitig zu verstehen – und über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der digitalen Entwicklung, strong AI und Chic Data. Mit Disziplinendating, Arbeitsalltagsnarrationen, Design-Thinking, postmarxistischem Lektürekreise, ökonomisch optimiertem Pizzabacken, kollektivem kreativem Schreiben, fairem Fussball und wer weiss mit was noch allem…
Finanziert wurde die Woche von der Uni Zürich, der ETH Zürich und Kostenbeiträgen durch die Teilnehmenden. Ermöglicht wurde die Woche durch dreissig wunderbare Teilnehmende und tausend Gedanken und Ideen.
Vielen Dank an alle, die diese wundervolle Woche belebt haben!

Ephemeres

Caspar Urban Weber (Bild) und Cédric Weidmann (Text)

Gelber Kranich
Nach den Sommerferien kam eine neue Schülerin in unsere Klasse, die sehr nett und ein bisschen älter war als wir. Sie hatte ein wunderschönes Lächeln und eine schwere, dunkle Stimme und bevor ich es richtig begriffen hatte, hatte ich mich verliebt.
Natürlich sprach ich nicht mit ihr. Es war anstrengend, es nicht zu tun, aber da wusste ich wenigstens, wie man es tat, ich war ziemlich gut darin, höflich zu schweigen. Aber die Tage wurden dunkler und sie immer schöner und ich entschuldigte mich nur mit dem Abwarten einer passenden Gelegenheit. Sie hatte einen Ring von Freundinnen um sich versammelt, wenn ich sie auf dem Schulweg sah.
Eines Morgens war ich zu spät. Auf der Hauptstrasse erkannte ich von hinten ihre Gestalt, die, ebenfalls zu spät, zur Schule rannte. Mit klopfendem Herzen beschleunigte ich den Schritt und näherte mich ihr langsam. Ich versuchte nichts zu denken. Bald war ich nahe genug, ihren Local PA anzutexten. Ich drückte auf Bestätigung.
«Oh, hallo!», sagte ihr PA auf meinem Handy. Es war ein gelber Kranich. Ich zögerte einen Moment und klickte mich durch meinen Inventar. Es erschien das rote Nashorn, das weisse Kaninchen, der fliegende Eierkopf, ein bebrillter Dachs und ein zertifizierter Stormtrooper, den mir meine Eltern zu Weihnachten geschenkt haben. Ich entschied mich für das weisse Kaninchen. Es erschien auf dem Schirm und antwortete ihrem gelben Kranich.
«Hey, auch zu spät?»
«Ja, sie ist zu spät», sagte der Kranich mit unlesbarem Blick. «Und er?»
«Oha, verschlafen?»
«Ja, genau. Hat den Wecker nicht gehört.»
Mir trat Schweiss auf die Stirn. Das lief zäh! Ich liess den Blick zwischen dem Gespräch der Chatbots auf meinem Bildschirm und ihrer laufenden Gestalt, die wieder an Abstand zu gewinnen schien, hin- und hergleiten.
Es war mir plötzlich ganz einsichtig. Das Kaninchen würde es wieder verkacken. Klar war es schnuckelig-naiv, aber es war einfach zu ängstlich. Davon wäre niemand beeindruckt, und sie am allerwenigsten.
Ich überlegte, ob ich den Stormtrooper einsetzen wollte, aber er war etwas zu nerdig, meine Starwars-Phase eigentlich vorbei. Ausserdem war er rücksichtslos ehrlich. Der fliegende Eierkopf — zu ulkig, eine Sache für kleine Kinder. Der bebrillte Dachs war keine Option: Er war ein PA, der ebenso begabt war, Ordnungsstrafen und Versicherungsentscheide anzufechten, wie er einen im Gespräch zu Tode langweilte. «Was willst du?», fragte ihr PA und lächelte geheimnisvoll. Das Herz blieb mir fast stehen, als ich dieses Lächeln sah. Denn sie hatte keinen gewöhnlichen PA, das war nicht eine bestimmte Eigenschaft von ihr: ihre Morgenlaune, ihr Flirtbot oder ein bestimmter strenger Charakterzug, den der Kranich verkörperte. Er war einer der teuren, komplexen Verschränkungen von spontanen Emotionen und kalkulierten Argumentationsstrukturen, eine von osteuropäischen PA-Künstlern produzierte Spezialanfertigungen. Jetzt zählte schnelles Handeln. Ich klickte, ohne weiter nachzudenken, auf den Stormtrooper. Ich kam ihr immer näher, wusste aber nicht wirklich, wie weit ich zu ihr aufschliessen wollte. Aus den Augenwinkeln musste ich zusehen, wie der Stormtrooper ohne Umschweife zum Punkt kam.
«Hat sie Lust, später ins Freibad zu kommen?» Der Kranich kicherte. «Wohl eher nicht, heute ist nicht so Freibad», antwortet er mit geschlossenen Augen und gespreizten Flügeln. Eine Regenwolke und die Temperaturvorhersage blendete er kurz ein. Dann lächelte er breit. «Aber man könnte kurz ein Eis kaufen und beim Sportplatz essen. Kann er Volleyball?»
«Gut! Nein, er glaubt, er könne es, er ist aber sehr schlecht darin.» Der Stormtrooper feuerte kurz zum Jubeln in die Luft, aber darauf achtete ich gar nicht mehr. Sie war vor mir stehen geblieben, weil ihr Handy vibriert hatte. Sie nahm es hervor und liess sich von den PAs Bericht erstatten. «Wir essen ein Eis», sagte sie erstaunt, als ich keuchend näher kam.
«Ja, sieht so aus.»
«Cool», sie lächelte, «da freu ich mich drauf.» «Wirklich?»
«Na ja, ich bin sicher, man hat nicht ohne Grund heute meine Judostunden verschoben», sagte sie und lächelte.
Ich grinste, aber immer noch ängstlich. Um uns nicht peinlich verabschieden zu müssen, schalteten wir unsere PAs ein und gingen, in einigem Abstand, weiter zur Schule. Als ich im Schulhaus ankam war ich zu aufgeregt, um mich gross zu entschuldigen. Als ich mich hinter mein Pult quetschte, flüsterte mir Martin ins Ohr. «Big up! Gratuliere!» Er boxte mich in den Oberarm. Der Stormtrooper musste seinem PA alles rundheraus mitgeteil haben, als ich das Zimmer betreten hatte. «Aber hey», sagte Martin so laut, dass es alle hören konnten, «du kannst echt kein Volleyball?» Die Klasse brach in Gelächter aus.
In meiner Erregung fühlte ich mich ungewöhnlich gereizt und Martins Lachen sah verdammt dämlich aus, richtig bescheuert. Unter dem Tisch nahm ich das Handy hervor und sah mir Martins PA an, ein glitzernder Braunbär. Da ich schon zu spät gekommen war und mich in Mathe auf keinen Fall mehr hängen lassen durfte, zog ich meinen Stormtrooper zurück und setzte das Rote Nashorn ein. Es schnaubte, scharrte. Ich konzentrierte mich auf den Unterricht. Nach kurzer Zeit wurde Martin neben mir ganz still und klopfte mir entschuldigend auf die Schulter.

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Niemand hatte das Bedürfnis ein menschliches Bewusstsein künstlich zu produzieren: Wie hätte man in ein Bewusstsein die Unwissenheit, Sturheit und Flatterhaftigkeit, Naivität und Arroganz implementieren können, die Menschen ausmachen? Ich meine, moralisch. Hätte man diese Fehler mit gutem Wissen einbauen können, waren sie nicht eine Gewalt gegen Wehrlose, die schlimmste Form von Eugenik?

Das Konzert
Ihre Eltern sassen in der vierten Reihe. Es gab noch einige andere Menschen im Publikum, die weiter hinten sassen und das Gesicht anstrengten. Dazwischen waren alle Stühle mit den Containern besetzt, die sanft in einem vornehmen Blau leuchteten. Ihre Eltern lächelten ihr zu, als sie auf die Bühne trat. Dieses Lächeln schien seit jener Nacht, als sie von ihrer Aufnahme ins Neue Konservatorium gehört hatten, kein bisschen Begeisterung verloren zu haben.
Während sie zum Synthesizer ging, liess sie den Blick noch einmal über die Menge schweifen, in der Hoffnung, ihren Bruder zu entdecken. Seit dem Streit vor zwei Jahren, der sich zwischen sie gekeilt hatte, war er an kein Konzert gekommen. Letzte Woche hatte er sich in einer E-Mail gemeldet; Betreff: «An dein höheres schlechtes Gewissen», in der er sich über den Vergleich zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur beklagte. «Erst jetzt», schrieb er, «begreife ich die Überheblichkeit in deinem Kommentar, Jugendbücher seien ‹auf ihre Art› auch schwierig zu schreiben, weil man sie dem unerfahrenen Publikum anpassen und deshalb auf jedes Wort achten müsse. Indem du meine Musik mit Jugendliteratur vergleichst, sagst du mir: So plump zu spielen wie du, das ist geradezu schwierig!»
Ihr Bruder spielte nicht plump — er war vielleicht der grösste Cellist seit Menschengedenken, alle Menschen liebten seinen starken, gefühlvollen Umgang mit dem Vibrato und die in sie eingegrabenen, tiefen Pausen. Und, was das Erstaunliche war: Sie selbst, die als eine von 6000 Bewerbern ins Neue Konservatorium aufgenommen worden war, mochte die Musik ihres Bruders besser als ihre eigene. Sein Spiel konnte sie zum Weinen bringen, so schön waren diese perfekten Griffe, die fast aufseufzenden Pausen. Aber in gewisser Weise wusste sie auch, dass ihr Geschmack schlechter als ihr Können war.
Sie setzte sich an den Synthesizer. Die Container blinkten gespannt. Gegen Tausend Euro kostete ein Sitzplatz am Abschlusskonzert, ein Containerhalter kostete in der Regel sogar noch etwas mehr. Sie begann in die Tasten zu greifen. Gekonnt flogen sie über die Klaviatur, tiefe Klänge untermalten ihre Läufe. Sie schaute auf. Ihre Eltern, deren Lächeln nicht vom Gesicht verschwand, krümmten sich heftig, als hätten sie Schmerzen. Sie spürte die Schwierigkeit ja selbst, die Anstrengung, den überladenen Akkorden zuzuhören und die Rhythmen noch als solche zu begreifen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie die Pausen, die Takte spürte. Sie bemerkte nur die Gänsehaut beim Befremden vor dem, was aus ihrem Instrument in den Saal hinausdrang.
Woher sie das Talent dafür hatte, wusste sie nicht. Aber sie hatte es. So waren ihre Wege verlaufen. Ihr Bruder brachte zwar alle Menschen zur Begeisterung, aber ihr eigenes Spiel brachte weit mehr als nur Menschen zur Begeisterung. Man hatte nie zugelassen, dass die Computer alle Arbeiten übernahmen. Selbst wenn man von den ethischen Problemen abgesehen hätte, war man sich nicht sicher, ob sie tatsächlich so kompetent waren, wie man es sich von ihnen immer versprochen hatten. Ob sie ihr Klavierspiel mit der gleichen Viruosität vollbracht hätten? Viel auffälliger als die Skills der Computer war den Menschen schon früh ihr untrüglicher Geschmack aufgefallen. Natürlich war Geschmack nicht Ansichtssache, das wussten alle. Es gab klare Kriterien, und unklare Kriterien, aber es gab sie, und das nicht nur, aber vor allem in der Musik — und die Computer schienen ihre Urteile perfekt nach ihnen zu richten. Besser noch als die Menschen. Wenn einem ein Freund einen Film empfiehlt, so behält man ihn mit optimistischen Erwartungen im Hinterkopf, doch wenn ein Computer vorschwärmt, so kann man sicher sein, dass es ein grossartiger Film ist. Nicht immer versteht man auch, warum. Und es ist gut möglich, dass, wenn die Container beim Abspann aufgeregt leuchteten, man nicht einsieht, wofür sie sich so begeisterten. Vielleicht fiel einem einige Tage später erst ein, warum. Aber auch das wusste man: Natürlich war der eigene Geschmack nicht der Beste. Natürlich gab es Menschen, deren Geschmack interessanter, bewandter, wichtiger, bedeutsamer oder erprobter war, als der eigene. Doch es waren ausgerechnet Computer, die sich darin besonders hervortaten. Sie mündete in einen Schlussteil, jemand blätterte ihr die mit kruden, will besprenkelten Notenblätter um. Sie versuchte, viel Gefühl in dieses Ende zu setzen, bedacht, keine Fehler zu machen, die ihr selbst nicht auffallen würden. Immer wieder liess sie den Blick in die Halle schweifen und immer wieder sah sie zufrieden zurück. Solange die Container dunkelblau leuchteten, hatte sie alles richtig gemacht.
In ihrer Familie kannte man den klassischen Kanon von Biber über Bach bis Xenakis, aber in den Augen der Computer war das natürlich etwas abgeschmackt, diese dilettantischen Bibliotheken wirkten, so hatte ihr ein Computer, ein wichtiger Mäzen und grosser Förderer von ihr, einst gesagt, ‹auf bezauberende Weise tölpelhaft›. Es war, was es war: ein bescheidener Geschmack. Wahre Grösse bewies nur, wer zu ihm stehen konnte.
Sie liess den letzten Lauf über die Tasten wandern, der Bass wummerte durch ihre Sohlen. Ein letzter Blick zu ihren Eltern, deren Lächeln tapfer ausharrte. Sie sah schon ihr stolzes Weinen voraus, wenn sie sich fragend umblickten und die Container im blinkenden Applaus nicht mehr aufhören würden zu leuchten. Und endlich, fertig.

Die Woche des Grossen Zufalls
Liebe Mama
Meine neue Mutter ist cool. Sie hat mir gleich einen Kuchen gebacken. Das Haus liegt zwar in den Aussenvierteln hier von Rio, ist auch eher eine Wohnung, aber es ist nett hier. Die neue Mutter ist sehr zufrieden: Sie liebe das Wetter. Sie kommt aus Sibirien und spricht schnell Russisch, aber ich wir verständigen uns über Zeichensprache.
Leider hatte sie noch nicht so viel Zeit für ein Gespräch, sie stritt sich mit meiner anderen Mutter, Lena, die uns heute zugeteilt worden war. Sie kommt aus Algerien und sie ist schon öfters in Südamerika gewesen, kann deshalb etwas Spanisch. Sie ist dick und sehr freundlich und hat selber einen Sohn gehabt. Ausserdem ist sie Lehrerin, mit einiger Wahrscheinlichkeit wird sie mich also unterrichten. Sie sagte, das Problem von Dunischka sei, dass sie sich wohl einen Mann gewünscht hätte. Der Streit zwischen ihnen handelte oberflächlich aber von der Verspätung, die der dichte Stau verursacht hatte. Nun läuft ja immer noch Die Woche des Grossen Zufalls. Heute waren hier tausende Umzugswagen unterwegs, die die Strasse verstopft haben, aber das ist ja bei euch sicherlich auch so; und während den zwei Sperrwochen wird sich alles zwangsläufig erst einmal beruhigen. Morgen sind die Haustierverlosungen; wir sind nicht sicher, ob wir gewinnen wollen. Hauptsache keine Giraffe oder etwas ähnlich Schwieriges wie beim letzten Mal.
So, ich bin sehr müde und wünsche euch alles Gute! Schreibt mir, ob in meinem alten Zimmer jemand wohnt. Sonst kann ich ja nach den Sperrwochen gleich die Koffer packen und zurückreisen, falls es nicht mehr geht.

Warum wollen alle glücklich sein? Warum wollen wir Nachhaltigkeit und Solidarität?
Es wundert mich nicht, dass wir es wollen, aber man darf sich überlegen, dass in zweihundert Jahren ebenso an diesen Konsens gedacht werden kann, wie wir heute an das Selbstverständnis, dass Frauen besser keine Arbeit haben sollten, die Überzeugung, dass Aderlass etwas Gesundes sein soll, und die fanatische Begeisterung für Nationalstaaten denken.
Wieviel Flatterhaftigkeit, wieviel Egoismus, Langeweile und Selbstgenügsamkeit gestehen wir jeder unserer Utopien zu? Werden in ihnen auch die Bösen glücklich?

Vergessen gehen
I

Ein Nackter steigt auf eine Baumkrone. Nächtlicher Nebel unter ihm. Eine erlegte Gazelle auf der linken Schulter, in der Rechten ein Speer. Huldigung dem grossen Jagdgott, dem ewig thronenden Machwerk. Blick hinauf zu den Treibenden Steinwolken, diesen gewaltigen Sternnetzen, an deren Speichen still sich fliegende Hütten andocken.
Er hat Rache gegen den Jagdgott geschworen und wird ihn, trotz Einspruch der Grossmutter, vom Himmel holen. Sie meint, der Obige sei einer von ihnen. Aber wie kann das nur einer von ihnen sein? Er steigt nach unten.
Viele Jahre. Kinder. Frauen, die das Feuer hüten während der Jagd. Jeden Abend die Huldigung dem Jagdgott. Milde des Alters löst den Hass ab und dann Ehrfurcht und dann wieder Hass. Die Steinwolke bleibt, Hütten kommen und gehen, er kennt sie wie seine Kinder.
Grossmutter vor ihrem Tod: «Sie kamen mich nie suchen. Woran haben sie gedacht als sie nach oben gefahren sind? Was war so viel wichtiger als das junge Pärchen in den Flitterwochen?»

II

Sie kamen der Polis näher, die riesige Stadt war schon von Weitem sichtbar. Eine Drohne flog ihrem Haus entgegen. Sie kam durch die offene Luke, um eine Nachricht zu überbringen. Mathilda nahm sie entgegen.
«Bleiben Sie sofort stehen! Das ist keine Warnung. Bei jeder Weiterfahrt werden die Sicherheitskräfte nicht zögern, Sie vom Himmel zu holen.»
Sie rief Bruno durch die Gartentür zu. Er griff nach der Sonnenbrille, stand auf und warf den schweren Anker über den Zaun. Er sah ihm nach, wie er die ersten Zirrostratuswolken durchbrach und rasch kleiner wurde, auf dem viele tausend Meter hohen Fall zum Erdboden. Als der Anker griff, ging ein Zucken durch das Gebäude. Bruno stand wieder auf, klopfte sich den Dreck vom Bauch und schielte, indem er sich am Grüngut-Container festhielt, um die Hausecke.
Orplidopolis schwebte noch fast einen Kilometer vor ihnen. Das Gewimmel der vielen angedockten Häuser, die leuchtende Reklame und der pulsierende, autark produzierende Zentrumsknoten waren schon zu sehen.
«Reine Routineangelegenheit», beruhigte die Drohne. «Seit Einführung des Anti-Gentrifizierungsparagraphen 17 prüft Orplidopolis alle Bewerber noch gewissenhafter.»
«Das ist gut», sagte Mathilda und winkte Bruno ins Wohnzimmer.
«Das ist gut.»
«Wir prüfen Ihre Gentrifizierungsneigungen», sagte die Drohne und fuhr fort, alle Innen- und Aussenräume des Hauses zu scannen. Eine Weile ruhte es vor dem flamingoförmigen Briefkasten, ein Geschenk von Mathildas Freundin, fuhr dann aber weiter fort, alles zu untersuchen.
Mit einer höflichen Verabschiedung drehte die Drohne ab, um den Bericht dem Stadtzentrum zu überbringen.
Bruno und Mathilda standen am Küchenfenster und blickten ihr nach, wie sie auf die fliegende Stadt zusteuerte. Sie hatten schon genau geplant, wo sie wohnen würden. Sie würden im venezianischen Viertel andocken. Der Antrag war sicher, mit Prüfungen hatten sie schon gerechnet und alles Nötige abgeklärt. Ihre Sachbearbeiterdrohne musste sich nur rasch um sie kümmern. Sie wollten sich küssen, als etwas Grosses von oben geflogen kam, und, ehe sie sichs versahen, die Drohne aus dem Sichtfeld geschleudert worden war. Mathilda und Bruno streckten den Kopf aus dem Fenster. Im Sturzflug drehte sie rauchende Spiralen, sie wurde immer kleiner, bis sie irgendwann in den Wäldern verschwand. Dann sahen sie wieder nach oben. Sie waren zwar noch weit ausserhalb der Stadt. Aber die würden bestimmt gleich eine zweite schicken.

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III

Es war ein wunderschöner Abend: Der Meteorenhagel liess die Atmosphäre glühen und gleich würden die letzten Sonnenstrahlen die Erde verlassen haben. Doch in der Polis würde der sehr viel spätere Sonnenuntergang die Promenade noch beleuchten, wenn auf der Erde unter ihnen schon Nacht war.
Sandra zog ein leichtes Kleid an, schminkt sich und spazierte, indem sie mit Absicht einige rote Ampeln übertanzte, zur Promenade. Zur Linken war der Abgrund, unter dem die Wälder dunkel leuchteten. Zur Rechten waren Restaurants und Bar. Als ein erster Hunger einsetzte, betrat sie ihr Lieblingsrestaurant. Eine Freundin von ihr kochte dort nur zum Vergnügen und ohne besondere Gegenleistungen. Lächelnd sah sie den Familienfeiern und Kongressabgeordneten zu, die sich an Ofenkartoffeln labten.
Sie wollte bestellen, aber sie wurde zweimal übergangen. Beim dritten Mal sah der Kellner sie und nickte ihr zu, erschien dann aber nicht mehr. Nach zwanzig Minuten beschloss sie, aufzustehen und zur Küche zu gehen, aber es trat eine halbe Minute niemand heraus und einzutreten wagte sie nicht. Peinlich berührt setzte sie sich wieder hin und sah aus dem Fenster. Die Sternschnuppen waren verschwunden. Irgendwann war ein Kellner in der Nähe und sie winkte nun mit beiden Händen und rief und er warf ihr einen Blick zu und schüttelte nur traurig den Kopf.
«Sie hat keine Lust mehr zu kochen.»
«Oh. Schon okay», sagte sie. Vor dem Hinausgehen malte sie noch einige Herzen auf alle Servietten und die Tischtücher und die Vorhänge. Nun war es auch in der Stadt dunkel geworden. Sie zielte nach Hause, um Kartoffelstock zu machen und eine Cola zu trinken. Schnell, als sie das rote Stopplicht sah, hielt sie auf den Fussgängerstreifen zu. Doch gerade als sie vor der Ampel ankam, schaltete diese auf Grün, und sie ging mit erhobenem Kopf über die Strasse.

Darf Google dir einige Fragen stellen?
Ist das Bergrestaurant rollstuhlgängig?
Die Erde ist die alte Oma, die du immer besuchst.
Google träumt auf deinen Bildern rum
Ja, das Bergrestaurant ist rollstuhlgängig.
Amerikanische Schreibe kann ich gar nicht ab
So, «ich nehm dich in den Arm
und zeig dir die Welt»
Was, wenn dich die Städte nicht wollen?
Ja, das Bergrestaurant ist rollstuhlgängig.
Die Engel brauchen die Wolken
Um nicht herunterzufallen.

Das Labor (Epilog)
Der Geheimagent hatte Zimmer Z12 vergessen. Das war ihm die Jahre noch nie passiert. Als er nachts, als alle schliefen, aus dem Zimmer Z11 getreten war und die leere Spritze in seinen Schiebewagen gelegt und eine volle Spritze aus dem gekühlten Aktenkoffer genommen hatte, wurde er vom Wind abgelenkt, der ihm um die Schenkel spielte. Zwar trug er wie immer seinen Geheimagentenanzug, aber er hatte den neuen Patch heute heruntergeladen. Lange hatte er sich nicht getraut. Aber mit dem Kleid, das ihm der Anzug simulierte, mit diesem physischen, sinnlichen Gefühl eines luftigen Stoffs an seinem Körper, fühlte er sich unglaublich, wie neu geboren.
Seinen Fehler bemerkte er erst, als er die Herberge schon wieder verlassen hatte und der Morgen anbrach. Was würde passieren?, dachte er. Es würde ein schlechter Tag werden für Martin, aber vielleicht könnte er das Schlimmste verhindern. Das Schicksal der Welt stand auf dem Spiel und er spürte die weiche Seide wie Streicheln an seinem Bauch.

Martin wachte mit starken Kopfschmerzen und einer angestauten Wut auf. Als er nach draussen ging, sah er die Teilnehmer des Utopielabors unter den Bäumen. Sie spielten Gitarre und lagen fröhlich in der Sonne. Er stellte sich eine Minute dazu, die anderen boten ihm Früchte und einen Platz auf der Picknickdecke an. Sie wollten gemeinsam diskutieren. Er lehnte ab. Plötzlich, ohne dass etwas Besonderes passiert wäre, begannen ihn alle zu nerven.
Er bemerkte den Rauch über der Burg, der ihm die letzten Tage nicht aufgefallen war und der die anderen nicht zu stören schien. Der Rauch machte die Sonne grau und es lag ein metallischer Geruch in der Luft.
Neugierig geworden, kletterte er auf den Bergfried. Als er Sicht auf das Tal hatte, atmete er scharf ein. Die Stadt, wie er sie kannte, lag in Trümmern. Das Kloster war weggesprengt, die Brücke hing in den Fluss. Bäume waren ausgerissen, Schlamm und Dreck überzogen die Ufer. Überall waren Bombenkrater zu sehen und von der mittelalterlichen Stadt waren wüste Ruinen geblieben.
Er ging nach unten und erzählte es den anderen. Sie hörten ihm mit viel Verständnis zu und machten erschrockene Gesichter. Aber als sie zum Dorf hinunterschauten, lächelten sie nur höflich: Sie konnten leider nicht sehen, was er sah. «Oder man sollte wohl sagen: Zum Glück!», meinten sie. Sie spielten weiter Gitarre. Jetzt war ihm unheimlich. Martin wandte sich ab.
Er kletterte über die Absperrung und stieg ins Tal hinunter. Am Ende der Treppe, aus einem Loch in einer Wand, hörte er Stimmen. Er bückte sich und sah vier Gestalten, die sich gegen die Höhlenwand drückten. Im Rauch waren sie fast nicht zu sehen. Jeder von ihnen trug eine Stirnlampe und eine Zigarrette in der Hand. Auf den übereinandergeschlagenen Beinen lasen sie ein dickes, streng aussehendes Buch. Sie lasen sich immer einige Zeile vor und diskutierten darüber, was in allen vorigen gestanden wäre.
Martin musste husten. Die Lektüregruppe zuckte zusammen und richtete die Waffe auf ihn. Als sie sahen, dass er ein Hemd mit Tiermustern trug, legten sie sie wieder weg. «Du bist einer von uns?»
«Von euch?»
«Der Geistesmenschen.»
Martin lachte, aber niemand lachte mit und er brach ab. Sie richteten das Gewehr wieder auf ihn.
«Okay, okay», sagte er hastig, «Ja, aber sicher, klar. Deshalb hab ich gelacht. Ich bin auch ein Geistesmensch wie ihr.»
«Beweis es uns.»
Martins Lippe fühlte sich trocken an. Er versuchte sich zu erinnern, was er über die Postmarxisten wusste. Doch zum Buch wurde er nicht befragt. Einer drückte ihm ein Gewehr in die Hand und schob ihn sanft nach draussen. Sie gingen mit eingezogenem Kopf einige Schritte. Im zerbombten Stadtzentrum legten sie sich auf einen Stapel Sandsäcke, vor der aufgesprengter Tuff auf der Strasse lag, der nackte Boden war zu beiden Seiten die Wände hinaufgeschleudert worden. In einem der hohen Häuser vor ihnen brannte Licht, doch Martin konnte keine Person sehen. Plötzlich wurde auf sie geschossen. Martin drückte sich mit dem Gesicht voran in die Sandsäcke, sein Begleiter feuerte durch das zerschlagene Fenster zurück.
«Na los!», rief er ihm zu. «Auf wessen Seite bist du?»
«Warum schiessen wir?»
Der Begleiter legte das Gewehr kurz ab und robbte zu Martin rüber. Über ihnen flogen die Schrapnells durch die Luft. Er zog Martin am Hemd zu sich heran und flüsterte ernst: «Die da oben…» Er zeigte mit dem dreckigen Finger zum Fenster. «Sie betreiben», hier verzog er das Gesicht, «Design Thinking, um ihr grösstes Problem zu lösen. Wir — und auch du.»
Der Beschuss wurde stärker. Etwas direkt vor ihrem Schutzwall fing Feuer. Martins Begleiter zog ihn in eine Gasse. «Beweis es uns. Hast du alles vergessen, vergessen, dass uns die Naturwissenschaftler das Studium verboten haben, weil es angeblich so unnütz sei? Wie wir in allen Medien gegen ihre Unmenschlichkeit angeschrieben haben, ihre verkalkulierten, unhinterfragten Denkweisen mit aller Härte verhöhnt haben? Wie sie uns die Bücher und wir ihnen die Taschenrechner verbrannt haben? Wir sind nicht unnütz. Aber mach dich nützlich. Geh hinters Haus und spreng ihnen die Prototypes aus dem Kopf, die sie entwickeln.»
Nun stiess er ihn in eine Gasse, die hinter das Gebäude führte. Martin sah verstört zurück, das Gewehr an sich gekrampft und der Geistesmensch nickte ihm aufmunternd zu, bevor er verschwand, um die Betriebswirte und Naturwissenschaftler abzulenken.
Martin sah tatsächlich das Licht des oberen Stockwerks. Die Menschen standen ungeschützt mit dem Rücken zum Fenster. Er überlegte schon, anzulegen, von Ferne drang das Propellern von Drohnen zu ihm und er warf noch einen letzten Blick zur Burg oben, eine paradiesische Insel inmitten des Stellungskriegs, für die es sich wohl zu kämpfen lohnte, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte. Es war ein beschnauzter Mann im Anzug. Die Kleider sahen unangenehm steif, eng und formell aus, doch davon liess sich der Mann nichts anmerken. Er zeigte ihm seinen Agentenausweis. «Keine Sorge. Ich bin da, um dich zu schützen.» Martin zuckte mit den Schultern und wollte gerade zur Erklärung ansetzen, dass es ihm doch gar nicht so wichtig sei, den Beruf seines Gegenübers zu erfahren, weil der Stellenwert der Arbeit ohnehin überschätzt sei. Gleich merkte er, dass er sich geistig immer noch auf der Burg befand. Er zuckte zusammen, als der Agent eine Spritze aus der Tasche nahm.
«Pssst, ruhig. Ich bringe dich wieder nach oben.»
«Wohin?»
«Ins Friedenslabor.»
«Die Burg?»
«Es ist nur ein Versuch. Die Versöhnung von Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Schliesslich war es einst möglich und vielleicht schaffen wir es wieder, zusammen mit der Pharma. Aber dafür brauch ich deinen Arm.»
Martin zögerte verdutzt. Dann, sehr feierlich, streckte er ihn hin.

Martin erwachte mit der Sonne im Gesicht, die durch das offene Fenster schien. Unten traf er auf die anderen und setzte sich zu ihnen. Sie spielten Gitarre und lagen fröhlich in der Sonne. Er stellte sich eine Minute dazu, die anderen boten ihm Früchte und einen Platz auf der Picknickdecke an. Sie wollten gemeinsam diskutieren. Er sprach das erste Wort, denn es war ihm eine witzige Geschichte eingefallen, die er mit allen teilen wollte.

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