Utopie-Festivals als Laboratorien für ein gutes Leben – Ina Kuhn

Die gute Zukunft im krisenhaften Jetzt: Utopie-Festivals als Laboratorien für ein gutes Leben jenseits der Pandemie[1]

Vortrag von Ina Kuhn M.A., Kulturanthropologin

„Die Welt ist mehr als schräg. Scheinbarer Stillstand. Krasse Krisen. Zeit für utopische Entwürfe.“[2] Mit diesen Worten lud das Labor mit Utopieverdacht letztes Jahr dazu ein, inmitten des zweiten Pandemiesommers eine Woche über ein gutes Leben jenseits, trotz oder mit der Pandemie zu diskutieren. Die Veranstaltung ist eins der von mir mithilfe von Feldbegriffen so bezeichneten Utopie-Festivals, die ich in meinem Promotionsprojekts als ‚Laboratorien des guten Lebens‘[3] rahme und mit Blick auf Praktiken der Zukunftsexploration ethnografisch erforsche. Die Festivals werden von Ökodörfern, Aktivist:innengruppen oder auch kirchlichen Organisationen veranstaltet und laden unter Namen wie Utopival, Move Utopia, Tage der Utopie oder Labor mit Utopieverdacht dazu ein, Ideen von einer guten Zukunft nicht nur zu diskutieren, sondern im Hier und Jetzt erfahrbar zu machen und zu erproben. Sie funktionieren als temporäre Aushandlungs- und Möglichkeitsräume – als Laboratorien – für ein gutes Leben jenseits vorgegebener (Alltags-)Strukturen und Konventionen, so die Ausgangsthese des Projekts. Die Veranstaltungen, die sich seit 2015 in Deutschland mehren, verstehen sich als Reaktionen und Antworten auf ‚Krisen‘; als teils nicht-institutionalisierte, teils gezielt ‚unpolitische‘ Formate, die den „Herausforderungen unserer Zeit“ ‚anders‘ begegnen wollen.  Das Move Utopia beansprucht beispielsweise für sich, „überkommene Verhältnisse menschlicher Vereinzelung ab- und neue Formen des Zusammenlebens aufzubauen.“[4] Das utopival[5] stellt Wirtschaftskrisen tauschlogikfreie Ökonomien gegenüber. Das Labor „wächst aus dem Bedürfnis, gesellschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen nicht ohnmächtig ausgeliefert zu sein, sondern diese gemeinsam mit anderen Menschen zu reflektieren und darauf zu reagieren.“[6] Selbstgestellte Krisendiagnosen – soziale Krisen wie Entfremdung, Sinnkrisen, stets zusammengedacht mit einer Geld- und Kapitalismuskrise – knüpfen an öffentlich-diskursive Krisendebatten an und funktionieren als Motivations- und Legitimationsrahmen; sie bieten Handlungsbedarf und sind Teil der Überschrift, unter der Utopie-Festivals Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftskontexten versammeln. Und so reihte sich die Pandemie scheinbar nahtlos in die Argumentation meines Feldes ein: Das eingangs zitierte Labor mit Utopieverdacht schreibt auf seiner Homepage: „Nach anderthalb Jahren Abstand, Maske und Desinfektionsmittel fragen wir uns noch mehr denn je: Was wollen wir von der Zukunft und wie können wir sie gestalten?“ In dieses „Labor“ möchte ich Euch mitnehmen und fragen: Wie wird Zukunft vor dem Hintergrund dieser neuartigen Krise entworfen, eventuell angepasst und neu verhandelt? Inwiefern verändert die Pandemie die Vorstellungen von und Orientierungen an einer guten Zukunft? Welche Kontinuitäten und Diskontinuitäten lassen sich erkennen? Wie passt welche und wessen gute Zukunft in dieses krisenhafte Jetzt?

Als Labor mit Utopieverdacht trifft sich auf einer Burg in Bayern seit 2015 jährlich eine etwa schulklassengroße Gruppe von „Laborierenden“, darunter im letzten Sommer Umweltwissenschaftler:innen, ein Steinmetz, eine Psychotherapeutin, ein Life-Coach, ein Innovationsmanager, eine Google-Mitarbeiterin, ein Datenanalyst, eine Sozialarbeiterin – mehrheitlich mittleren Alters, noch kinderlos und mit akademischem Hintergrund. Das Organisationsteam versammelt sich um ein Kernteam von Akademiker:innen, die nach eigener Aussage den hierarchischen und patriarchalen Strukturen von Universitäten und wissenschaftlichen Konferenzen – dem „Professor, der dir die Welt erklärt“ – entkommen wollen, um „mal richtig zu diskutieren.“[7] Die Teilnehmer:innen sind dazu aufgefordert, eigene, (zukunfts-)relevante Themen zu identifizieren und Formate des Austauschs dafür zu finden, z.B. ein Einkommensdiagramm basteln, ein Soziogramm zum Thema CO2-Verbrauch anleiten, eine Gesprächsrunde zu alternativen Beziehungsmodellen moderieren.[8] Alles was beschäftigt ist wichtig und erlaubt, so adressiert auch das „Manifest“ der Veranstaltung die Zukunft: „Die Zukunft macht etwas mit uns, und wir machen etwas mit ihr. Was wollen wir von der Zukunft und welche Möglichkeiten der Gestaltung haben wir?“[9] Entlang drei exemplarischer, praktischer Gestaltungsmöglichkeiten, oder „Zukunftspraktiken“ (Reckwitz 2016), die im Feld entworfen und erprobt werden, möchte ich das Zukunfts- und damit einhergehende Zeitverständnis des Feldes veranschaulichen und einige kulturanthropologische Zugänge und Perspektiven auf Zukunft mitanbieten.

Beispiel 1: Zukunft als Bildungsraum

Als ich das erste Mal den Gemeinschaftssaal der Burg betrat, bot sich mir ein eindringliches Bild: Mit schwarzen Hockern wurde inmitten des Raumes das Wort Utopie gestellt. Links von der Utopie stand ein meterlanger Büchertisch, rechts von der Utopie Tische mit Schminkzeug, Bastelmaterial und Verkleidungsutensilien, die Utopie symbolisch materialisiert zwischen Bildung und Spiel. Unter den mitgebrachten Büchern verdichtete sich feministische und queere Literatur, Aufklärungsliteratur zum Thema Rassismus, zu nicht-monogamer und nicht-paarnormativer Sexualität und Liebe, Ratgeber zu alternativem Wirtschaften, und bildungsbürgerliche ‚Klassiker‘ wie Bloch’s Prinzip Hoffnung oder Foucault’s Heterotopien. Während der Woche bildeten sich verschiedene Buchclubs, in Diskussionen wurde im akademischen Stil immer wieder auf Literatur oder auch Bildungsprojekte verwiesen, und als Reaktion auf einen sozialen Konflikt, der sich darum drehte, dass sich die einzige nicht-weiße Teilnehmerin in einigen Situationen nicht gesehen fühlte, wurde im Anschluss jede:r Teilnehmer:in das Buch „Der weiße Fleck: Eine Anleitung zu antirassistischem Denken“ von Mohamed Amjahid nach Hause zugeschickt – für den besseren Umgang beim nächsten Mal. Bildung wird hier als Konfliktlösungsstrategie eingesetzt, die Vorstellung wird erweckt, man könnte sich zu einem besseren Zusammenleben hin- und weiterbilden. Dieses Verhältnis von Zukunft und Bildung beschrieb zuletzt Silvy Chakalakkal, die Zukunft dezidiert als „Bildungskategorie“ identifiziert; In ihrem Aufsatz „The World That Could Be“ (2018) schlägt sie unter der Überschrift einer anticipatory anthropology eine „europäisch-ethnologische Bildungs- und Zukunftsforschung“ vor, denn „Über Bildung werden […] zukünftige Gesellschaftsentwürfe verhandelt.“(9) „Überlegungen zu einer lebenswerteren Zukunft, einem gerechteren und von Gleichheit geprägten Zusammenleben gründen nicht selten auf dem Konzept der Bildungsfähigkeit, das von einer Höher-Bildung, einer Kultivierung der gesamten Gesellschaft ausgeht.“ (8) Sie beschreibt Zukunft als „normatives und exploratives Lehrstück“ (6) und verweist dabei auf ein auch in meinem Feld fühlbares Spannungsverhältnis: „Wir haben es mit der Gleichzeitigkeit von Machtraum (mit normativen Leitbildern) und von Möglichkeitsraum (mit explorativen Gedankenexperimenten) zu tun.“ (9–10) Während der Büchertisch normative Leitbilder spiegelt – etwa eine sozialgerechte, egalitäre, genderfluide Gesellschaft der Zukunft – komme  ich nun zu einem explorativen Gedankenexperiment, bei dem einige Bastelsachen der anderen Seite der Utopie zum Einsatz kamen.

Beispiel 2: Zukunft als Imaginationsraum „2071“

An Tag zwei des Labors leiteten einige Teilnehmer:innen eine Art Planspiel an; Aufgabe war es, eine Person oder ein Lebewesen für das Jahr 2071 zu entwerfen; ähnlich wie in einem Freundebuch konnten hierfür vorgefertigte Zettel ausgefüllt werden; wer bin ich, was kann ich, wie sehe ich aus, was müsste eine utopische Gesellschaft für mich erfüllen, was bräuchte es genügend, z.B. Lebensmittel, was möglichst wenig , z.B. Angst und was vor allem, z.B. Frieden. Die Zettel sollten später eingesammelt, blind getauscht und sich in diese fiktive Person hineinversetzt werden. Der Arbeitsauftrag: „Baut euch Regeln in einer Gesellschaft, in der ihr nicht wisst, wer ihr seid.“ Kleingruppen sollten sich erstens einen Grundsatz überlegen, z.B., dass Bedürfnisse nicht gekauft werden dürften – „auch nicht, dass Menschen sich impfen lassen“, zweitens ein Verbot, etwa ein „Ausgrenzungsverbot“; drittens eine Ausnahme, z.B., wenn Lebensentwürfe einander lebensbedrohlich gefährdeten; und viertens ein Ritual mit Körpereinsatz. Das Ritual wurde im Sinne der Pandemie entworfen: Das wenig hygienische Händeschütteln sollte durch eine neue Begrüßungsformel ersetzt werden; Augenkontakt suchen, halten und lächeln. Mit dem Einwand, dass diese Idee seheingeschränkte Menschen ausschließe, einigte sich die Gruppe auf ein kurzes Innehalten Rücken an Rücken, das ginge auch mit Menschen im Rollstuhl und würde direkt Vertrauen ausdrücken – und man atmet sich nicht an. Das Ritual wurde in den folgenden Tagen erprobt. Imagination ist auch hier, wie von Arjun Appadurai in Modernity at Large (1996) etabliert, eine soziale und kollektive Praxis, die sich performativ – z.B. im Ausfüllen der Zettel –, materiell – etwa die ausgefüllten Charakterbogen –, und dabei stets körperlich-sinnlich-emotional manifestiert, z.B. das Gefühl, Rücken an Rücken zu stehen.

Beispiel 3: Zukunft als Selbstgestaltungsraum

Zukunft zu imaginieren bedeutet immer auch ein zukünftiges Selbst zu imaginieren. „Was brauchst du, um ab heute deine Träume zu leben?“, „Welche Angepasstheit legst du nach dem LUV ab? Was möchtest du dir angewöhnen?“ „Was wirst du zum ersten Mal tun? Im LUV? Im Leben?“[10] Diese Fragen in populär-therapeutischer Sprache sollen zur Selbstreflexion anregen; wie und wer könnte ich noch sein? Utopie-Festivals fordern dazu auf, ein anderes, zukünftiges Selbst zu erkunden, mit Jochen Bonz (2013) gesprochen die „Anprobe“ eines anderen Selbst oder einer anderen Identität zu wagen. Hierzu stellen sie Praktiken und Techniken der Selbstformung (z.B. Conrad u. Kipke 2011) bereit; neben solchen Fragen gehörte z. B. das Austesten genderfluider Pronomen oder anderer Vornamen bei diesem wie bei anderen Utopie-Festivals dazu. Es geht um eine spielerische Erkundung, wer man selbst sein oder noch sein könnte, oder „eigentlich ist“[11]. Utopie-Festivals verstehen sich als „geschützte Räume“, in denen diese Art der Zukunfts- und Selbstexploration möglich ist. Dabei bieten sich die Festivals auch als zeitlicher Anfangspunkt, als eine Art Übergangsritual, als gezielt liminale Phase zu einem veränderten Selbst an; narrativ wird ein Davor und ein Danach hergestellt. Dazwischen gilt es die eigene, alltägliche Komfortzone zu verlassen, während diversen Workshops, Übungen und gemeinschaftlichen Ritualen „erste Male“ zu provozieren, etwas über sich zu lernen, an sich zu arbeiten. Diese Arbeit am Selbst in Form von spielerischen und teils therapeutischen Selbst- und Körpertechniken, was Jan Hinrichsen in den „Forme(l)n des guten Lebens“ (2019) als „kuratiertes Selbst“ (28) bezeichnet hat, spiegelt immer auch die Suche nach einem besseren bzw. zukünftigen Selbst. Stets schwingt der Anspruch einer gewissen Progressivität mit – es geht darum weiterzukommen, sich zu entwickeln – und ist so auch die Arbeit an der eigenen Zukunftsfähigkeit.

Die Frage nach der Zukunftsfähigkeit persönlicher und kollektiver Zukunftsentwürfe musste vor dem Hintergrund der Pandemie neu gestellt werden. In den Beispielen fügte sich die Pandemie überraschend unauffällig ein, wurde an nur wenigen Stellen offenkundig mitgedacht und eher nebensächlich kommentiert. Doch standen das Labor und die von dort aus zu imaginierende und auszuprobierende Zukunft unweigerlich im lebensweltlichen Kontext der Pandemie. Einem Interviewpartner, Max[12], Doktorand im Bereich Umwelttechnologie, fiel auf:

„Dass die Themen stark bei den Menschen waren hatte ich das Gefühl, beim eigenen Leben und Wohlfühlen und so-. also so wie am ersten Tag hatten wir ja diese große Runde zu Beziehung zu den Eltern und so Psychoanalyse, ähm, und wenig Lust da war größere, abstraktere gesellschaftspolitische Themen die sonst stark dominiert haben in den letzten Jahren-. genau, ähm, also [Karin] und ich, die beide viel mit Klimawandel machen, ja, hatten beide keine Lust das anzureißen, ähm, und stattdessen eben Patientenverfügung oder utopische Wohngemeinschaften und solche Sachen, eben nah bei den Eigenbedürfnissen und bei den eigenen Lebensrealitäten auch. Und gleichzeitig fanden wir es eben auch schade, dass es nichts zum Klimathema gab, weil es kann doch nicht sein so ohne das Thema, ne? Oder was [Rachel] ziemlich stark aufgestoßen ist, dass nichts zu strukturellem Rassismus oder, ähm, der Homogenität und Privilegien der Gruppe-. dazu gab es in den letzten Jahren auch manchmal Sachen, aber dieses Jahr war so-. eben wenn alle ganz nah bei sich sind, ist man noch stärker bei den homogenen Themen der weißen akademischen Schicht die da war sozusagen und das hat auch für Spannung gesorgt so, ähm, und auch zu innerer Zerrissenheit so.“ 

 „Utopie verpassen, suchen, leben, drüber reden“[13]

Hier sehe ich Verschiebungen auf drei Ebenen, die empirisch untrennbar miteinander einhergehen, die ich hier aber zu analytischen Zwecken auseinanderdividiere:             Erstens: die offensichtlichere, thematisch-inhaltlich Verschiebung. Zur Erklärung; Das Thema „Beziehung zu den Eltern“ wurde gemeinschaftlich in einer Gesprächsrunde vertieft, die eine Teilnehmerin und Psychotherapeutin spontan auf Anfrage angeleitete. Hier wurden persönliche Geschichten geteilt, darunter Suchterkrankungen von Elternteilen, Brüche mit den Eltern oder konfliktreiche Ehen, auf die spontan reagiert wurde. Die Patient:innenverfügung brachte ein Teilnehmer mit, der das Labor für den richtigen Ort hielt, um den Bogen in der „anonymen Gemeinschaft“ auszufüllen. Diese inhaltliche Verschiebung lässt sich kaum aus dem Kontext der Pandemie lösen, eher lässt sie sich damit erklären: Sorge um die eigenen, eventuell gesundheitlich vulnerablen Eltern, neue oder mit der Pandemie wiederkehrende finanzielle und emotionale Abhängigkeiten können sich in der gezielten Auseinandersetzung mit der Beziehung zu den eigenen Eltern spiegeln. Im Kontext der Pandemie, also der Konfrontation mit potentiell tödlicher Krankheit und der eigenen Endlichkeit, lässt sich auch das gemeinschaftliche Ausfüllen einer Patient:innenverfügung lesen, genauso ein Spaziergang zum Thema ‚chronische Krankheiten‘, den eine andere Teilnehmerin vorschlug oder der Austausch zu „utopischen“, heißt: gemeinschaftlichen, nicht-singulären Wohnformen, der die Vereinzelung und Vereinsamung einiger Menschen im Lockdown spiegelt. Die Pandemie wird kaum explizit thematisiert, aber implizit stets mitverhandelt.                                             Zweitens, verschieben sich die Bezugsgrößen, entlang derer die Akteur:innen Zukunft ausrichten; der Klimawandel, der im Feld als gesamtgesellschaftliches Anliegen und dessen Eindämmung als eine der Voraussetzungen für das „gute Leben für alle“ gilt, rückt in den Hintergrund, genauso das Thema Alltagsrassismus. Im Vordergrund standen stattdessen die „Eigenbedürfnisse“ und „eigenen Lebensrealitäten“, wie es Max formulierte. Gesamtgesellschaftliche, ‚eigentlich‘ wichtige Themen werden ‚verdrängt‘, so verstehe ich meinen Interviewpartner, statt groß zu denken wird es „nah“ und „homogen“, so seine kritische Analyse. Die Verschiebung von Aufmerksamkeiten und Priorisierungen im Pandemie-Alltag verschieben auch die Parameter, nach denen die Zukunft im Feld konzipiert wird. Diese Verschiebung verschärft das Spannungsverhältnis – Max spricht von „innerer Zerrissenheit“ – zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen der Arbeit am eigenen Wohl und dem guten Leben für alle. Dieser moralische Konflikt, die Frage danach, welche Themen, die wen betreffen, nun wichtiger sind – ist auch ein zeitlicher.                                                               Denn drittens, verschieben sich auch feldeigene Konzeptionen von Zeitlichkeit, oder anders formuliert: Die Pandemie verschiebt die gute Zukunft nach ‚hinten‘ und es ist unklar, welche Zukunft nun dringlicher ist. Die selbstvergewissernde Frage des Interviewpartners „es kann doch nicht sein so ohne das Klimathema, ne?“, spiegelt eine Desorientierung, die ich auch bei anderen Teilnehmer:innen herausgehört habe. Desorientiert einerseits, weil es ein normatives Thema der Zukunftsbearbeitung ist, weil es zum Programm gehört, und andererseits, weil es doch drängt. Die im Gästebuch groß geschriebene „FOMO“‚ Fear of missing out‘, meint nicht nur die Angst, pandemiebedingt das gewohnte und erwartete Alltagsleben zu verpassen, sondern auch die Utopie, also eine unerwünschte Zukunft nicht abwenden oder die Weichen für eine gewünschte Zukunft nicht rechtzeitig stellen zu können. Die Pandemie, so eine gefühlte Vorstellung, die sich im Feld breitmachte, hält auf, sie unterbricht und blockiert einen mehr oder weniger linear imaginierten Zeitverlauf hin zum guten Leben, das die meisten, die auf Utopie-Festivals daran und darauf hinarbeiten, doch gerne auch noch ein Stück weit miterleben würden. Mit diesem Unbehagen, die inhaltliche, einheitsmäßige und zeitliche Unordnung von Zukunft, lässt sich vielleicht auch die doch auffällige De-Thematisierung der Pandemie verstehen.

Zusammenfassung:

Das Labor mit Utopieverdacht als Fallbeispiel für Utopie-Festivals, kann als emergente Form zivilgesellschaftlicher „Interventionen in der Gegenwart zur Bearbeitung der Zukunft“ (Sutter 2021) und „Suchbewegung in Krisen“ (Kuhn 2021) verstanden werden. Wie anhand der Beispiele veranschaulicht, wird ‚Zukunft‘ hier als Bildungs-, Imaginations- und Selbstgestaltungsraum und dabei stets als Möglichkeitsraum konzipiert, der mal normativer und mal experimenteller gestaltet wird. ‚Zukunft‘ funktioniert in diesem Feld als moralischer und selbstvergewissernder kollektiver Orientierungshorizont, der – so hat es die Pandemie verdeutlicht – beweglich ist und sich entlang der Gegenwart verschiebt. Über dieses dynamische Aushandeln von Zukunft wird immer auch Zeitlichkeit imaginiert, praktikziert und erfahrbar gemacht. Die Pandemie markiert dabei eine Doppelfunktion von Utopie-Festivals: die reziproke Bearbeitung der Zukunft und Verarbeitung der Gegenwart. So wurde letzte Woche erst über den Newsletter des Labors zum diesjährigen Treffen eingeladen: „Konfrontiert und oft überfordert mit der Gleichzeitigkeit von ökologischen, gesundheitlichen, sozialen und politischen Krisen fragen wir uns mehr denn je: Was wollen wir von der Zukunft und wie können wir sie gestalten?“ Ich bin gespannt auf die diesjährigen Antworten.

Literatur:

Appadurai, Arjun (1996). Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. University of Minnesota.

Bonz, Jochen (2013). Anproben des Selbst – Konzeptualisierungen popkultureller Erfahrungsräume des Utopischen im »mimetic turn«. In: Mania, Thomas et al. (Hg.). ShePop. Frauen. Macht. Musik. (73 – 86). Münster.

Chakkalakal, Silvy (2018). „The World That Could Be“ – Gender, Bildung, Zukunft und das Projekt einer Anticipatory Anthropology, Zeitschrift für Volkskunde 114(1), 3–28.

Hinrichsen, Jan (2019). Moralische Problematisierungen, oder: Wozu soll eine Ethnographie des ‚guten Lebens‘ gut sein? In: Ders. u. Monique Scheer (Hg.). Forme(l)n des guten Lebens. Ethnografische Erkundungen alltäglicher Aushandluchen von Glück und Moral (7–46). Tübingen.

Conrad, Ruth u. Roland Kipke (2015). Selbstformung. Beiträge zur Aufklärung einer menschlichen Praxis. Münster.

Kuhn, Konrad J. (2021). Selbstgemachte Zukünfte. Ambivalenzen des Selbermachens als Suchbewegung in Krisen. In: Do it yourself! Die neue Lust aufs Selbermachen. Begleitbuch zur gleichnamige Wanderausstellung des LWL-Museumsamtes für Westfalen, Hg. Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), 62–7. Münster.

Reckwitz, Andreas (2016). Zukunftspraktiken. Die Zeitlichkeit des Sozialen und die Krise der modernen Rationalisierung der Zukunft. In: ders. (Hg.). Kreativität und soziale Praxis: Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie (115–136). Bielefeld. https://doi.org/10.14361/9783839433454-006.

Sutter, Ove et al. (2021). Planen. Hoffen. Fürchten. Zur krisenhaften Gegenwart der Zukunft im Alltag. In: ders. (Hg.). Planen. Hoffen. Fürchten. Zur Gegenwart der Zukunft im Alltag (7–24). (=Bonner Beiträge zur Alltagskulturforschung, 13). Münster.


[1] Der Text ist als Vortrag von Ina Kuhn für den 43. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (4.–7. April 2022) entstanden. Mehr Informationen zum Forschungsprojekt unter https://www.kaee.uni-freiburg.de/forschung/laboratorien-des-guten-lebens-zur-diskursiven-und-performativen-aushandlung-von-alternativen-zukunftsentwuerfen-auf-utopie-festivals

[2] Labor mit Utopieverdacht: https://utopieverdacht.space/luv-2021-utopink/ Stand 22.08.2022.

[3] Mehr dazu: https://www.kaee.uni-freiburg.de/forschung/laboratorien-des-guten-lebens-zur-diskursiven-und-performativen-aushandlung-von-alternativen-zukunftsentwuerfen-auf-utopie-festivals.

[4] Move Utopia: https://move-utopia.de/de/infos/selbstverstaendnis Stand 22.08.2022.

[5] Siehe https://www.utopival.de/.

[6] Labor mit Utopieverdacht: https://utopieverdacht.space/manifest/ Stand 22.08.2022.

[7] Feldtagebuch Kuhn 11. – 18. Juli 2021.

[8] Ebd.

[9] Labor mit Utopieverdacht: https://utopieverdacht.space/manifest/ Stand 25.01.2022.

[10] Diese Fragen stellten den Teilnehmer:innen im Gemeinschaftsaal ausgelegte bzw. aufgehängte Zettel.

[11] Feldtagebuch Kuhn 11. – 18. Juli 2021.

[12] Name und Berufsbezeichnung wurden zum Zweck der Anonymisierung geändert.

[13] Anonymer Eintrag im Gästebuch des Labors.