Webs of Care

What is it?

Webs of Care ist ein Konzept, welches darauf abzielt, Care in einer Gruppe ins Bewusstsein zu holen, zu verankern und zu normalisieren.

Woher?

Das Webs of Care-Konzept, auf welches hier Bezug genommen wird, wurde für das LUV (Labor mit Utopieverdacht) 2024 entwickelt und eingeführt. Seinerseits bezieht es sich auf die Arbeit und Recherche von Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha, Disability Aktivistin, die einen Bogen zum STAR House (Safe Space für Trans* Menschen of Colour, gegründet von Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera) schlägt. Ebenfalls als Vorbild dient das Bezugsgruppen-Konzept, welches in polit-aktivistischen, widerständigen Bewegungen verbreitet ist.

Die vorliegende Beschreibung entstand nach der Erfahrung am LUV 24 durch eine teilnehmende Person, aus dem Bedürfnis heraus, dieses Konzept in andere Kontexte weiterzutragen. Diese Verschriftlichung hat keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und basiert auf einer individuellen Erfahrung.

Was ist der Unterschied zu einem “herkömmlichen” Awareness-Konzept?

Im Gegensatz zu Konzepten, die sich auf Awareness-Teams verlassen, versuchen die Webs of Care die Care- und Awareness-Arbeit in der Gruppe zu verankern. Dies hat den Vorteil, dass die notwendige Care-Arbeit nicht an Expert*innen outgesourced wird, sondern sich idealerweise eine kollektive Verantwortung für das Wohlbefinden der Gruppenmitglieder und das Gruppenklima einstellt. Gerade für Konstellationen, welche längerfristig zusammen Zeit verbringen oder arbeiten, können Webs of Care eine Möglichkeit sein, Awareness-Strukturen nachhaltig und niederschwellig in den gemeinsamen Umgang aufzunehmen.

Für kurzfristige Veranstaltungen, die sich eher im Dienstleistungs-Sektor bewegen (Parties, Club, usw.) ist es je nach Kontext sinnvoller, mit Expert*innen-Teams oder Awareness-erfahrenen Menschen aus den anwesenden Communities zu arbeiten, während die Webs eine langfristigere Form der Awareness- & Care-Arbeit darstellen. Beide Formen können sich idealerweise ergänzen.

Wie funktioniert Webs of Care?

Im Grundsatz handelt es sich bei den Webs of Care um Untergruppen, die eine erhöhte Verantwortung für ihre Mitglieder übernehmen. Dabei sind die Webs als zusätzliche Ebene zu den bereits bestehenden Beziehungsnetzen zu verstehen.

Die Webs sind durch Affinitäten und ähnliche Bedürfnisse zusammengesetzt. Am Labor mit Utopieverdacht, welches eine Woche dauert, hat sich in einer Gruppe von 20-30 Personen eine Web-Grösse von 3-5 Personen bewährt. Die Webs entscheiden individuell in welcher Form und wie oft und wo sie sich zum Beispiel für Check-Ins treffen, wie diese aussehen, wie viel oder wenig Struktur sie brauchen, um sich wohl zu fühlen. Durch diese individuellen Gestaltungen der Webs ist es möglich, unterschiedliche Bedürfnissen im Bezug auf Intensität und Form der gegenseitigen Fürsorge gerecht zu werden. In regelmässigen Treffen wird aus den Webs in die grosse Gruppe gefeedbackt. Wünsche und Bedürfnisse an die Gesamtgruppe können bei Bedarf von den Webs formuliert werden. So muss nicht unbedingt die Person mit dem Anliegen im Plenum dafür einstehen, sondern es kann auch jemand anderes aus dem Web das Bedürfnis kommunizieren, was Druck und Exposition einzelner Personen verringern kann. Zudem können manche Bedürfnisse bereits im Web aufgefangen werden, so dass nicht alles «ins Plenum muss», um gesehen zu werden. Diese Plena dienen ebenfalls dazu, ein Gefühl dafür zu bekommen, ob die Care-Webs funktionieren. Da Bedürfnisse nicht statisch sind und sich verändern, ist es wichtig, dass sich Webs und deren Strukturen verändern können. Eine besondere Sorgfalt erfordert deshalb die gemeinsamen Setzung des Rahmens für die Formierung und niederschwellige Möglichkeiten zur Veränderungen in der Zusammensetzung der Care-Webs.

Was durch die Webs of Care in einer Gruppe passiert ist vergleichbar mit Aspekten von Care-Arbeit, die durch Beziehungen in Freund*innenkreisen oder Familien getragen wird. Durch das explizite Konzept wird diese Form des gegenseitigen Sorgetragens sichtbar gemacht, und Personen, welche nicht bereits durch Beziehungsnetze in der Gruppe getragen sind, werden integriert und mitgenommen. Das Konzept ist bewusst niederschwellig gehalten, man könnte fast sagen «common sense», versucht aber eben dort einzuhaken, wo durch alltägliche Ablenkungen und Stress der Fokus auf das Sorgfältige und Zwischenmenschliche verloren gehen kann oder bestehende Beziehungsgeflechte einzelne Personen alleine dastehen lassen.

Zusätzlich zu den Webs of Care ist es wichtig, Abläufe zu definieren für allfällige Krisensituationen (Übergriffe, Eskalationen, etc).

Vorgehen?

Die Aufgabenstellung und Zusammensetzung der Webs wird in einem Gruppenprozess erarbeitet. Die Modalität, wie Webs zusammengestellt, und wie niederschwellig Wechsel möglich sind, sind zwei Fragen, die offen in der Gesamtgruppe thematisiert werden sollten. Eine Möglichkeit für die Web-Bildung ist es, über Gruppenübungen und Aufstellungsspiele ein Gefühl für die unterschiedlichen Bedürfnisse zu bekommen. Hier ist es wichtig, dass die Prozessmoderation den Vibe der Gruppe trifft und die einzelnen Personen so abholt, dass sie sich dem vulnerablen Thema öffnen können und mögliche Widerstände gegen das Konzept oder einzelne Schritte offen thematisiert und gemeinsam angegangen werden können. Je nach Bedürfnissen können sich Webs nach dem Zufallsprinzip formieren oder bewusst und konsensuell formiert werden, z.B. entlang geteilter Bedürfnisse oder «Vibes». Da dieser Moment social anxiety auslösen kann, lohnt es sich, die Modalitäten der Web-Formierung in der Gruppe auszuhandeln. Auch eine Mischform ist denkbar, so geschehen am LUV 2024: Ein Teil der Gruppe formierte aktiv ihre Webs, ein anderer Teil bevorzugte das Zufallsprinzip.

Ebenfalls kann es Sinn machen, die einzelnen Personen zu motivieren, nicht mit ihren engsten Bezugspersonen in ein Web zu gehen, um die Präsenz der bestehenden Beziehungen etwas zu reduzieren und eine zusätzliche Ebene zu schaffen. Am LUV sind beispielsweise Menschen die in einer Elternrolle mit ihren Kindern da waren explizit nicht mit den anderen Eltern in ein Care-Web gegangen, um eine Reduktion des Austauschs im Web auf «Elternthemen» und die Bedürfnisse der Kinder zu vermeiden.

Nach der Bildung der einzelnen Webs werden individuelle Abmachungen über Häufigkeit und Form von Check-ins oder Austausch getroffen, sowie das Vorgehen für das nächste Zusammenführen der Webs besprochen. Ab diesem Punkt wird die Verantwortung für die Webs of Care kollektiviert, und die Workshopleitung zieht sich zurück. Im Hintergrund kann sie für Anliegen wie Web-Wechsel und die Leitung der Care-Plena zuständig bleiben.

Web of Care Beispiel aus dem LUV 24: Leuen (schweizerdeutsch für Löwen)

Nach dem Vorstellen der Webs of Care beginnt die Web-Bildungsphase. Anhand von Aufstellungen im Raum (Vektoren von “Abends ist meine soziale Batterie voll” bis “leer”, oder “ich mag gerne viel bis wenig Strukturen”, etc) entsteht in der Gruppe ein Eindruck über die Bedürfnisse und Konstitutionen der beteiligten Personen. Die Gruppe beginnt sich auf einer spezifischen Ebene kennenzulernen. Manche Webs finden schnell und bewusst zusammen, während andere Personen sich – auf Impuls einer Person aus der Gruppe – in zufällige Webs losen lassen. Dies zeigt, dass bereits das Bilden der Webs individuell und bedürfnisorientiert gestaltet werden kann.

Im Beispielsfall der Leuen zeigt sich in der Aufstellungsphase, dass alle fünf Personen eine ähnliche Vorstellung der Check-ins haben: Sie haben nicht besonders Lust darauf, merken aber, dass es gut tut. In der Tendenz eher einmal pro Tag ein Check-in als alle paar Stunden. Alle Beteiligten sind grundsätzlich Nachtmenschen und möchten nicht früh aufstehen, also macht es keinen Sinn vor dem Mittag Fixtermine zu verabreden. Es wird besprochen, wie mit unterschiedlichen emotionalen Ausdrücken umgegangen wird, eine Person die schnell weint, bittet die Gruppe darum, das als” normalen” emotionalen Ausdruck zu behandeln und nicht in Tröst-Muster zu verfallen. Eine Person braucht typischerweise nach dem Mittagessen eine Pause zum Erholen und Verdauen und schlägt deshalb vor, sich jeweils nach dem Essen auf einer Decke zum gemeinsamen Rumliegen (rumleuen) zu treffen. Das Web nimmt diesen Vorschlag positiv auf und während der Woche entwickelt sich dieser Fixpunkt im Tag zu einer beliebten Aktivität (High Performance Chilling). Durch die gemeinsame Affinität zu Wortspielen und Dad Jokes ergibt sich schnell quasi ein Branding des Care Webs, was zu einer hohen Identifikation mit diesem Web führt.

Während der ganzen Zeit des LUV ist von den Web-Personen ein erhöhtes Verantwortungsgefühl füreinander zu spüren, sei es bei praktischen Problemstellungen, wie auch bei der Frage, wohin mensch sich mit emotionalen Anliegen wendet. Im Bezug auf den Umgang mit Bedürfnissen zeigt es sich, dass nicht alle Personen das gleiche Tempo haben, nicht alle gleich schnell und deutlich spüren, was sie möchten. Dies stellt sich im Lauf der Woche heraus und das Web bietet Platz, um die daraus entstehenden Unsicherheiten und Verletzlichkeiten zu teilen, bevor diese in Unstimmigkeiten umschlagen.

Nach der intensiven Woche haben die Leuen entschieden eine Chatgruppe zu gründen, um auch in Zukunft ab und zu miteinander einchecken zu können.

Weitere Erfahrungen von LUV 2024:

Nach dem ersten LUV mit Webs of Care war die Resonanz der Teilnehmer*innen insgesamt sehr positiv. Eine Person, die zum ersten Mal an der Woche teilgenommen hat, schilderte beispielhaft an der abschliessenden Feedback-Runde, dass die Webs ihr als neue Person beim Einstieg geholfen habe. Auch funktionierte es gut, dass Nachzügler*innen in bestehenden Webs aufgenommen wurden. In vielen Webs wurden nicht nur Bedürfnisse und Sorgen sondern auch positive Erlebnisse geteilt.

Offen bleibt, wie krisenfest die Webs in diesem Kontext sind: Was passiert beispielsweise, falls eine Person sich in ihrem Web nicht ausreichend wohl und sicher fühlt und (auch deshalb) keinen guten Weg findet, dies zu thematisieren oder das Web zu wechseln? Die Thematisierung dieses Risikos und klare Abmachungen für niederschwellige Wechsel, die nicht als Wertung wahrgenommen werden, können eine hier Hilfestellung bieten. Klar ist: Die Webs-of-Care können vieles auffangen aber nicht alle Awareness-Anliegen lösen.

Darüber, wie das Konzept für andere Gruppen und Kontexte funktioniert oder angepasst werden müsste, wenn die Gruppe oder der Kontext (und damit die Webs?) länger als eine Woche oder vielleicht sogar unbefirstet aktiv bleibt, können wir anhand der Erfahrungen vom LUV nur spekulieren.

Ressourcen:

– Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha zu Webs of Care: radicalinprogress.org/piepzna-samarasinha-2018-summary-part-1

– Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha: brownstargirl.org

– Extinction Rebellion: Bezugsgruppen Handbuch